Interview mit Gaston Florin – Vom Scheitern | Alexander Hartmann

Interview mit Gaston Florin – Vom Scheitern

by alex

„Alex, es muss PERFEKT sein.“

Mein eigener Coach Gaston Florin (www.gaston-florin.de) hat, wenn ich mich mal wieder hinter meinem damaligen Perfektionismus versteckt habe, immer ironisch zu mir gesagt: „Psst, Alexander, es MUSS perfekt sein! Sonst lieber gar nicht erst anfangen.“

Heute weiss ich: Perfektionismus ist nur ein schönerer Begriff für Feigheit. Wir haben uns daran gewöhnt ist dass wir die wichtigen Dinge – die vor denen wir Angst haben – nicht angehen müssen wenn wir nur die gesellschaftlich akzeptierte Version des Prokrastinierens proklamieren: „Oh, es ist noch nicht so weit, ich bin da einfach ein Perfektionist.“

Danke Gaston dass du mir früh diesen Zahn gezogen hast!

Und: Ich freue mich sehr, dass Gaston sich die Zeit genommen hat, mir ein paar Fragen zu beantworten rund um das Thema Scheitern. Er war mein persönlicher „Scheiter-Coach“ und hat viel zu diesem Thema zu sagen. Seine beruflichen Wurzeln liegen in der Zauberkunst (eine unserer Gemeinsamkeiten) und im Theater. Inzwischen ist er auch ein erfolgreicher Speaker und Trainer. Bühne frei für Gastons Florin!

Das ganze 45 Minuten Interview findest du hier zum kostenlosen Download, um es auf’s Handy zu ziehen oder im Auto zu hören.

Klicke hier zum Downloaden

 

Hier ist das Interview in Schrift:

Wie man beim Jonglieren NIEMALS einen Ball  verliert: ein Interview mit Gaston Florin

Alexander: Du hast einmal gesagt, dass das, was viele Menschen für „Scheitern“ halten, eigentlich nur eine Planänderung ist. Was genau meinst du damit?

Gaston: Scheitern heißt zunächst mal nur: Es ist etwas passiert, das ich nicht erwartet habe. Stattdessen ist etwas anderes passiert. Viele Menschen halten diese „Planänderung“  in erster Reaktion für etwas ganz Schreckliches. Und natürlich gibt es Momente, in denen etwas Ungeplantes wirklich schlimme Folgen hat: Etwa wenn ein Gehirnchirurg einen Hauptnervenstrang durchtrennt. Dann ist diese Planänderung natürlich ungünstig. Doch die wenigsten Scheiter-Momente haben diese Tragweite, die meisten sind, objektiv betrachtet, viel, viel harmloser. Mein eigener Lehrer für Improvisation, Keith Johnstone, hat in seinen Workshops gerne gesagt: „Stay happy when you loose.“ Heißt: „Sei glücklich, auch wenn du gerade Mist gebaut hast.“

Ich habe als Schüler immer gedacht, ich muss allen gefallen, meinen Eltern, meinen Lehrern … Nach dem Motto: Aufgabe nicht richtig gelöst? Setzen, Sechs! Ich glaube, diese Sozialisierung erleben die meisten Menschen. Gerade wir Deutschen ticken ganz massiv auf diese Art und Weise. Heute sind Fehler für mich einfach „Lerngeschenke“. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist das Jonglieren. Es gibt eine Art zu jonglieren, ohne dass jemals ein Ball runterfällt. Ein Ball, der runterfällt, ist beim Jonglieren ja normalerweise ein „Fehler“. Es gibt aber eine einzige Möglichkeit, zu vermeiden, dass ein Ball runterfällt – und diese Möglichkeit besteht darin, dass man NIEMALS einen Ball loslässt. Man wirft einfach keinen Ball. Man lässt keinen los und dadurch kann nie ein Ball runterfallen! Die Folge davon ist allerdings: Man lernt nicht jonglieren! Und man wird das Jonglieren auch nie erlernen, weil man nie riskiert, einen Ball zu verlieren.

Keith Johnstone hat uns in einem Workshop die Geschichte erzählt von einem Zeichenlehrer, der zu seinen Schülern in einem Akt-Zeichen-Kurs gesagt hat: „Sie werden, bis Sie auch nur EINEN guten Akt zeichnen, im Schnitt 5.000 Fehler machen: ein Schatten, der nicht richtig fällt, eine Proportion, die nicht stimmt … Meine Empfehlung ist: Machen Sie diese 5.000 Fehler so schnell wie möglich!“

Wenn wir auf einer Bühne stehen und uns, wenn wir einen Fehler machen, als Gegenreaktion dafür sofort bestrafen – z.B. durch Gedanken wie „Mist, wie konnte ich nur so blöd sein?“– in dem Moment unterbricht die Kommunikation zwischen uns und unseren Zuhörern. Dann passiert das, was wir Fremdschämen nennen. Denn die Zuhörer bekommen es mit, wenn sich derjenige auf der Bühne innerlich bestraft, auch wenn er sich das nicht anmerken lässt. In diesem einen Moment zerbrechen die Kommunikationsfäden zu unseren Zuhörern. Wie kann ich verhindern, dass das passiert? Die Lösung ist: dass ich es selbst nicht so schwer nehme und über mich lachen kann.

Das ist anfangs nicht so einfach, es braucht etwas Übung. Aber manchmal hat das ganz lustige und verrückte Konsequenzen, wie ich es selbst mal als Zauberkünstler erlebt habe. Es gab eine Zeit, da war ich im Kempinski Hotel in München, einem sehr edlen Haus, der „Stammzauberkünstler“. Ich wurde gerufen, wenn gute Unterhaltung gewünscht war. An einem Tag wurde ich zu einem Tisch gerufen mit zwei Frauen und einem Kind. Ich wollte ihnen ein paar Zaubertricks präsentieren. Keine große Sache, ich war professioneller Zauberer, normalerweise klappte das alles wie am Schnürchen. An dem Tag nicht. Ich ging zu den beiden Frauen und dem Kind hin – und fing an. Und vergeigte direkt den ersten Trick. Beim zweiten Trick vergaß ich die Vorbereitung zum Haupttrick. Dadurch war auch dieser Trick vergeigt. Der dritte Trick funktioniert auch nicht. Zum Glück gab es in mir (dank der Arbeit mit Keith) eine Stimme, die mir einflüsterte: „Stay happy when you loose…“. Ich versuchte also, so heiter und gelassen wie möglich zu bleiben. Doch auch alle weiteren Tricks gingen total in die Hose! Irgendwann musste ich laut loslachen und habe gesagt: „Entschuldigung, es war nicht mein Tag heute, vielen Dank, dass Sie mir so geduldig zugeschaut haben!“

Da stellte sich heraus, dass diese zwei Damen am Tisch von zwei verschiedenen Künstler-Agenturen stammten. Beide wollten meine Visitenkarte haben! Sie haben mich hinterher sogar gebucht – nicht weil ich der beste Zauberkünstler war an dem Abend, sondern will ich so sympathisch gescheitert bin!

Ich habe das später noch ganz oft erlebt: Wenn wir über das, was gerade schief geht, herzlich lachen können und in der Leichtigkeit bleiben, dann werden wir zum Menschen. Und interessanterweise werden wir gleichzeitig zum Helden. Weil wir über den Dingen stehen und uns nicht davon angreifen lassen. In dem gleichen Atemzug, in dem ich der Looser bin, bin ich dann schon wieder der Held.

Alexander: Bedeutet im Klartext: Je verletzlicher wir uns zeigen, auf der Bühne wie im Leben, um so besser, oder?

Gaston: Ja, genau. Erstens werden wir zum MENSCHEN. Und zweitens nehmen andere Menschen unseren Fehler gar nicht wahr, sondern er wird zu einem Teil der Show! Wenn ich als Zauberkünstler auftrete und lasse den „geheimen“ Gegenstand, den eigentlich keiner sehen soll, aus Versehen fallen – dann ist es geschehen. Dadurch, dass ich mich selbst auch noch bestrafe und mir innerlich eine „rein haue“ mache ich es doch nicht ungeschehen. Viel wichtiger ist, dass ich in dem Moment in Kontakt bleibe mit den Menschen, mit meinen Zuhörern. Und wenn ich das schaffe, wenn ich in solchen Momenten leicht mit mir selbst bleibe, dann kommt der kreative Teil in mir oftmals auf sehr viel bessere Lösungen, als ich sie vorher geplant hatte! Man erzählt sich, dass ein sehr berühmtes Zauberkunststück, „Gezogene Karte wandert in die Hosentasche“, nur deshalb erfunden wurde, weil der Künstler den Trick eigentlich „verbaselt“ hatte! Nach dem er die gezogene Karte des Zuschauers zuerst nicht gefunden hatte, hat er, um es zu retten die Karte schnell und heimlich in die Hosentasche wandern lassen. Aus dem eigenen Scheitern heraus hat dieser Künstler ganz schnell eine Variante von diesem Trick erfunden, die sogar noch viel besser war, als das war er eigentlich geplant hatte.

Alexander: Großartig! Genauso erlebe ich es auch: Wenn ich mich selbst bestrafe, schaltet mein Gehirn in einen Modus, in dem überhaupt nichts mehr geht oder in dem alles noch viel schlimmer wird. Wenn ich mich freue – kann ich es förmlich geniessen, dass etwas richtig dumm läuft und mein Gehirn kommt auf ganz andere Ideen und Lösungen. In meinem letzten Thailand-Urlaub war das so: Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder richtig Urlaub gemacht und habe mich am ersten Tag begeistert in die Wellen gestürzt. Jetzt muss man dazu sagen: Ich bin Brillenträger, minus 3,5 Dioptrien. Ich stürze mich also in die Wellen – schwupp, weg war die Brille! Ich greife danach, damit sie nicht untergeht, greife zu fest zu – und zerbreche sie. Die ersten Gedanken, die kamen, waren: „Toll, jetzt stehst du hier, mitten im Meer, und in Thailand, wo du nicht mal eben schnell einen Optiker findest, der dir die Brille reparieren kannst, und hast noch 10 Tage Urlaub vor dir – den du nicht SEHEN kannst!“ Und dann tauchte sofort der Satz „Stay happy when you loose“ in meinem Kopf auf, weil ich ihn so verinnerlicht hatte durch unsere gemeinsame Arbeit. Mit dem Ergebnis, dass ich mich, zurück im Hotel, auf die Suche nach Klebeband (Gaffa Tape) gemacht habe, und für den Rest des Urlaubs mit der „weltbesten zusammengeklebten Brille“ durch dieses Ferien-Ressort gelaufen bin. Und es ging! Es sah vielleicht ein bisschen komisch aus, aber es ging. Wenn ich mich stattdessen die ganzen 10 Tage lang gegrämt hätte, wäre es nicht besser geworden, ich hätte mir selbst den ganzen Urlaub vermiest! So hab ich mich halt einfach für den Rest des Urlaubs gefühlt wie Harry Potter 😉

Gaston: Und hat es Gespräche geöffnet?

Alexander: Darauf kannst du wetten.

Gaston: Ja, und genauso tasten wir uns immer mehr hin an den Zustand, in dem wir noch schneller über uns lachen können und uns irgendwann gar nicht mehr innerlich bestrafen. Ich denke da gerade an eine Geschichte, die man von einem großen Unternehmen erzählt. Ein Mitarbeiter hat einen Fehler gemacht, der das Unternehmen mehrere Millionen Dollar gekostet hat. Dieser Mitarbeiter hat Angst um seinen Job und zermartert sich das Hirn auf dem Weg zum Chef, der ihn zu sich gerufen hat. Er ist sicher: Ich bin gefeuert. Wider Erwarten entlässt ihn der Chef nicht. Und der Mann, der den Fehler gemacht hat, fragt: „Warum entlassen Sie mich nicht? Ich meine, ich habe hier einen Riesenfehler gemacht!“ Und der Chef sagt: „Ich habe gerade mehrere Millionen Dollar in Ihre Fortbildung investiert. Ich wäre schön blöd, wenn ich Sie jetzt entlassen würde.“

Er weiss: Warum soll ich jemand anderen einstellen, der vielleicht eines Tages den gleichen Fehler macht? Bei diesem Mitarbeiter weiß er: Der macht diesen Fehler nie wieder!  Auch das gehört dazu. Aus Fehlern lernen. Darum bezeichne ich sie so gerne als Lern-Geschenke.

Alexander: Du sagst, den Umgang mit dem Scheitern kann man trainieren und du übst dies auch mit deinen Teilnehmern und Klienten. Wie funktioniert das?

Gaston: Wichtig finde ich zu erkennen, dass das Ganze ein Prozess ist, ein langsames Herantasten. Wir müssen uns in der Regel erst einmal bewusst machen, dass gerade etwas anders gelaufen ist als geplant – und uns in einem zweiten Schritt erlauben, darüber zu lachen. In der Regel ist zwischen diesen beiden Schritten erst mal eine Zeitverzögerung. Beim ersten Mal liegen vielleicht fünf Sekunden zwischen dem Fehler und dem Lachen, beim zweiten oder dritten Mal vielleicht nur noch zwei Sekunden, später nur noch eine … Am liebsten trainiere ich das Fehlermachen mit meinen Teilnehmern beim Jonglieren: Wenn ein Ball runterfällt, bitte ich sie, dieses Fallenlassen des Balls als das Größte und Tollste zu zelebrieren, was sie jemals erlebt haben. Das heißt also: Nicht bücken, um den Ball aufzuheben, sondern aufrecht stehenbleiben, die Arme auseinanderreißen und laut rufen: „Juhu!“ Das ist eine sehr gute Möglichkeit. Sie funktioniert nur für eine Personengruppe nicht: für Jongleure. Für Jongleure ist das Jonglieren ihre Profession, ihnen ist Jonglieren wichtig. So wichtig, wie einem Mathematik-Professor die Mathematik ist. Auch er macht nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen gern einen Rechen-Fehler. Jongleure müssten an dieser Stelle etwas anderes nehmen. Für den „normalen“ Menschen, den Nicht-Jongleur, ist das Jonglieren gut geeignet, weil es ihm nicht so sehr am Herzen liegt. Es ist  schön, wenn es klappt, wenn nicht – nicht schlimm. Ein Jongleur könnte zum Beispiel stepptanzen oder singen oder zeichnen … einfach ein Feld, auf dem er nicht schon so lange und hart trainiert hat. Wenn er dann auf diesem anderen Gebiet das neue Handlungsmuster gelernt hat – den Fehler zu feiern – dann kann er es eines Tages auch auf seinen Beruf, das Jonglieren, anwenden.

Alexander: Mir selbst hat das Improvisationstheater sehr geholfen beim Scheitern-Lernen. Empfindest du das auch so?

Gaston: Das Improvisationstheater oder auch kurz Impro-Theater, hat viel mit dem echten Leben zu tun. Es wirft die Schauspieler in Szenen hinein, die sie vorher nicht geübt haben. Sie sind also genauso unvorbereitet auf das, was kommt, wie wir Menschen im Alltag. Wenn Impro-Schauspieler auf eine Bühne gehen, wünscht sich das Publikum, wovon das Stück handeln soll. Wenn jemand sagt: „Wir hätten gern ein Stück mit einem Koala-Bär und einem Birkenzweig“, dann legen die Schauspieler los und einer ist dann vielleicht der Koala-Bär und der andere der Birkenzweig. Dieses unvorbereitete Reagieren, dieses „Was mache ich jetzt ganz spontan damit?“ ist sehr hilfreich für uns im Beruf, z.B. im Umgang mit Kollegen oder Chefs. Beim Impro-Theater trainere ich das Improvisieren und Scheitern permanent. Der geschützte Raum ist ähnlich wie beim Jonglieren: Es ist nicht so schlimm, wenn es nicht klappt. Ich lasse schneller wieder los. Bei der Improvisation wird manchmal von einem Moment auf den anderen etwas Neues begonnen. Eine Szene ist zu Ende oder stagniert – also starte ich etwas Neues. Das ist ein weiterer sehr wertvoller Aspekt, den wir auch in unserem Alltag gut gebrauchen können. Für mich ist das Impro-Theater eine tolle Methode, um Fähigkeiten wie Schlagfertigkeit, Reaktionsvermögen und Kreativität zu trainieren, alles Dinge, die wir auch im Leben brauchen. Wie eben auch das Scheiternkönnen.

Alexander: Wenn es drei Tipps gäbe, die uns den Umgang mit dem Scheitern leichter machen, welche wären das?

Gaston: Ich glaube, das Wichtigste ist wirklich die Erlaubnis: sich selbst die Erlaubnis geben, dass Fehlermachen OK ist, dass Ungeplantes nicht wirklich schlimm ist, und dass ich versuche, den Moment des Darüberlachens immer näher an den Moment des Scheiterns heranzubringen. Anders ausgedrückt könnte man sagen: Liebevoll mit sich selbst sein. Immer den Bodenkontakt gut spüren. Die Absurdität im eigenen Leben wahrnehmen und sich darüber amüsieren.

Vielen Dank für deine Zeit, lieber Gaston, und die vielen wertvollen Denkanstöße!

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